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Verfolgungssuizide – Die Selbsttötungen im Kontext der nationalsozialistischen Deportationen und das Lebensende von Arthur Nicolaier (1862-1942) = Suicides under persecution – acts of self-determination in the context of national socialist deportations and the final days of Arthur Nicolaier (1862-1942)



Verantwortlichkeitsangabevorgelegt von Tim Ohnhäuser

ImpressumAachen : RWTH Aachen University 2024

Umfang1 Online-Ressource : Illustrationen


Dissertation, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen, 2024

Veröffentlicht auf dem Publikationsserver der RWTH Aachen University 2025


Genehmigende Fakultät
Fak07

Hauptberichter/Gutachter
;

Tag der mündlichen Prüfung/Habilitation
2024-11-08

Online
DOI: 10.18154/RWTH-2025-00388
URL: https://publications.rwth-aachen.de/record/1000477/files/1000477.pdf

Einrichtungen

  1. Institut und Lehrstuhl für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin (524000-2 ; 921910)
  2. Philosophische Fakultät (700000)

Inhaltliche Beschreibung (Schlagwörter)
Arthur Nicolaier (frei) ; Deportation (frei) ; Nationalsozialismus (frei) ; Suizid (frei) ; Widerstand (frei)

Thematische Einordnung (Klassifikation)
DDC: 900

Kurzfassung
Hintergrund --- Die vorliegende Arbeit befasst sich mit den Selbsttötungen verfolgter Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus, mit dem Schwerpunkt auf der Zeit der reichsweiten Deportationen ab Herbst 1941. Die generelle Darstellung des Phänomens wird ergänzt durch einen Blick auf den Einzelfall: Arthur Nicolaier (1862-1942), der Entdecker des Tetanuserregers, wurde als jüdischstämmiger Mediziner verfolgt und letztlich zur Deportation nach Theresienstadt vorgesehen. Um dieser Deportation zu entgehen, beging er im August 1942 Suizid. Die Arbeit versucht anhand dieses Vorgehens eine Brücke zwischen statistischer Rekonstruktion und individuellen Lebensgeschichten zu schlagen, um die vielfältigen Facetten des Suizids unter NS-Verfolgten sichtbar zu machen. Die Verfolgungssuizide in Deutschland zwischen 1933 und 1945 werden in dieser Arbeit als distinktes historisches Phänomen beschrieben. Hier bietet sich einerseits eine chronologische Aufteilung in Phasen der jeweils dominanten Bedrohungslagen an, zum anderen ein Blick auf die jeweiligen Suizidkontexte. Der hier genauer betrachtete Kontext wird bestimmt durch die Deportationen und die Rolle des Suizids als Option der Flucht und Verweigerung. Mit Beginn der Deportationen blieben den Verfolgten nur noch zwei Optionen, sich dem totalen Anspruch der NS-Verfolger auf Leib und Leben zu entziehen: die Flucht in den Untergrund und die Flucht in den Tod. Gefragt wird in dieser Arbeit zum einen nach der zeitgenössischen Wahrnehmung des Themas, zum anderen nach der Prävalenz: Wie stark waren die Aktionen verknüpft mit den konkreten Deportationstagen und wie bereiteten sich die Menschen auf die Option der Entziehung durch Suizid vor? Die Analyse der Motivlagen und Umstände basiert dabei auf Memoirenliteratur, zeitgenössischen Dokumenten, Briefen und Tagebucheinträgen. Für die systematische Analyse der Fallzahlen, die Einblicke in die Dynamik und andere Aspekte geben, wurden Statistiken der Zeit ausgewertet. Mit dem Fokus auf den Vorgängen in Berlin gilt dabei die besondere Aufmerksamkeit der örtlichen Polizeistatistik, den Bestattungszahlen des Jüdischen Friedhofs Weißensee und den Aufzeichnungen des Berliner Jüdischen Krankenhauses. Für eine möglichst vertiefende Beschreibung der Vorgänge wird zudem genauer auf die ärztliche Berufsgruppe geschaut. Wie keine andere Profession war sie involviert in das Thema der Verfolgungssuizide: sei es durch vertrauliche Beratung oder die Beschaffung von Mitteln im Vorfeld, über die Behandlung nach gescheiterten Suizidversuchen oder die Feststellung des Todes. Zuletzt wird die Frage nach der Einordnung der Verfolgungssuizide in die bestehende Flucht- und Widerstandsforschung gestellt und auf unterstützende Hilfsnetzwerke rund um Arthur Nicolaiers letzte Hoffnung auf Rettung geblickt. Ergebnisse --- Die Suizidhäufigkeit war eng mit den Deportationswellen verknüpft, was die nachgezeichnete, zum Teil tagesgenaue, Dynamik belegt. Besonders im Jahr 1942, das als „Höllenjahr“ bezeichnet wird, erreichten die Suizidzahlen ihren Höhepunkt. Im August 1942, als auch Arthur Nicolaier deportiert werden sollte, wurden 59 % aller Suizide in Berlin von verfolgten Jüdinnen und Juden verübt (bei einem Anteil von ca. 1 % an der Bevölkerung). Die Menschen, die dem Deportationsbescheid nicht folgen wollten, sahen sich gezwungen, zwischen der Flucht in den Untergrund und dem Suizid zu wählen. Beide Optionen erforderten ähnliche Vorbereitungen und die Unterstützung durch Helfer. Durch ein Zusammenfassen der Fälle von Untertauchen, Suiziden und Suizidversuchen wird eine Rate von 12-15 % an Entziehungen offensichtlich. Dies verdeutlicht das Ausmaß der Verweigerung noch mehr als es der bisherige, eher fragmentierte, Blick vermochte. Für die Verfolgten wirkte besonders der Besitz von Schlafmitteln wie Veronal für viele Verfolgte beruhigend, wahrte dies doch eine letzte Chance zur Selbstbehauptung. Diese Tötungsart hob sich auffällig von den übrigen in Berlin verübten Suiziden ab und verdeutlicht zusätzlich die singuläre Stellung des Phänomens des Verfolgungs-suizids in seiner Zeit. Während die Suizide den Ablauf der Deportationen nicht grundsätzlich in Gefahr brachten, bedeuteten sie für den geplanten Einzug des Vermögens einen erheblichen Mehraufwand. Wie gezeigt wird, mussten alternative Konstrukte gefunden und Verordnungen angepasst werden, um die (schein)legale Beraubung fortsetzen zu können. Die Menschen, die sich durch Suizid entzogen hatten wurden somit posthum zu „Störenfrieden der Enteignung“. Ärztinnen und Ärzte spielten im Zeitraum der Deportationen eine wichtige Rolle, indem sie den Verfolgten durch Atteste oder Scheinoperationen halfen, Deportationen hinauszuzögern. Gleichzeitig wurde ihr Handeln überwacht und diejenigen, die Suizidversuche überlebender Patienten nicht meldeten, bestraft. Die NS-Behörden versuchten ihrerseits, Suizide zu verhindern, um die reibungslose Durchführung der Deportationen sicherzustellen. In diesem Spannungsfeld mussten Ärztinnen und Ärzte täglich Entscheidungen zwischen akuter Lebensrettung und Verhinderung weiteren Leidens treffen, wie gezeigt wird. Arthur Nicolaier traf umfassende Vorbereitungen für seinen Suizid, vor allem aber für die Zeit nach seinem Tod, indem er mit viel Engagement sein Vermögen vor dem Zugriff des NS-Staats schützte. Das belegt die Auswertung der zahlreichen Dokumente und vor allem Briefe an seien Verwandtschaft. Doch auch der 80-Jährige wäre ohne den Verfolgungsdruck nicht selbst aus dem Leben gegangen. Seine letzten Hoffnungen zur Verschonung von einer Deportation richteten sich auf eine Unterstützung durch die Firma Schering und durch Wolfgang Heubner. Zwischen diesen beiden Akteuren, die oftmals Verfolgten Unterstützung boten, bestanden zahlreiche Hilfsstrukturen und Verbindungslinien, wie herausgearbeitet wird. Schlussfolgerung --- Diese Arbeit zeigt auf, dass die Verfolgungssuizide oft mehr waren als reine Verzweiflungstaten: Sie wurden geplant und als bewusste Entscheidungen getroffen, vergleichbar mit anderen Fluchtoptionen wie dem Untertauchen. Und sie konnten neben allem Leid und der Verzweiflung durchaus positive Signaturen aufweisen. Die Arbeit plädiert aus diesem Grund für eine verstärkte Gleichbehandlung von Untertauchen und Suizid in der historiografischen Forschung, da beide Formen der Verweigerung und Entziehung wesentliche Elemente von Resistenz und Selbstbehauptung darstellen. Diese integrative Betrachtung kann zu einer umfassenderen und differenzierten Analyse des Widerstandsverhaltens während der NS-Zeit beitragen. Die letzten Lebensjahre von Arthur Nicolaier zeigen dabei die Bedeutung der Betrachtung des Einzelfalls: wie sehr das Handeln von Hoffnung und Verzweiflung geprägt war, und wie Verfolgte bis zum letzten Moment aktiv Handelnde bleiben konnten.

Background --- This study examines the suicides of Jewish individuals persecuted during the National Socialist regime, with a focus on the period of nationwide deportations beginning in the fall of 1941. A general analysis of this phenomenon is complemented by an in-depth examination of a specific case: Arthur Nicolaier (1862–1942), the discoverer of the tetanus pathogen, who was persecuted as a Jewish physician and ultimately slated for deportation to Theresienstadt. In August 1942, Nicolaier took his own life to avoid deportation. By adopting this approach, the study bridges statistical reconstruction and individual life stories, illuminating the diverse dimensions of suicide among victims of National Socialist persecution. Persecution suicides in Germany between 1933 and 1945 are presented as a distinct historical phenomenon. The work employs both a chronological division based on predominant threats and an analysis of specific contexts in which suicides occurred. The context examined in detail is defined by the deportations and the role of suicide as an option for escape and defiance. As deportations began, persecuted individuals were left with two means of escaping the totalitarian claims of the Nazi regime over their lives: fleeing underground or fleeing into death. The study addresses contemporary perceptions of this issue as well as its prevalence: How closely were these acts linked to specific deportation dates, and how did individuals prepare for the possibility of escaping through suicide? The analysis of motives and circumstances is based on memoir literature, contemporary documents, letters, and diary entries. For systematic analysis of case numbers, which offer insights into dynamics and other aspects, statistics from the period were evaluated. Special attention is given to Berlin, drawing on local police statistics, burial records from the Weißensee Jewish Cemetery, and records from the Jewish Hospital of Berlin. To provide a deeper understanding of the events, the medical profession is examined in detail. Physicians were uniquely involved in the subject of persecution suicides: offering confidential advice, procuring means in advance, treating failed suicide attempts, or certifying death. Finally, the study addresses the question of how persecution suicides can be situated within the existing research on escape and resistance, with a particular focus on the support networks surrounding Arthur Nicolaier’s final efforts to secure his survival. Results --- The frequency of suicides was closely tied to waves of deportation, as shown by reconstructed, sometimes day-specific, dynamics. In 1942, referred to as the “year of hell”, suicides peaked. In August 1942, when Arthur Nicolaier was slated for deportation, 59% of all suicides in Berlin were committed by persecuted Jews (who constituted approximately 1% of the population). Those unwilling to comply with deportation orders faced a stark choice: flee underground or take their own lives. Both options required similar preparation and external assistance. Aggregating cases of evasion, suicides, and suicide attempts reveals an evasion rate of 12–15%, underscoring the scale of defiance more comprehensively than fragmented perspectives have previously allowed. For many persecuted individuals, the possession of sleeping aids such as Veronal offered a final sense of reassurance, representing a means of maintaining autonomy. This choice of method stood out from other suicides in Berlin, emphasizing the unique nature of persecution suicides during this period. Although suicides did not fundamentally disrupt the deportation process, they posed significant complications for the planned confiscation of property. Alternative legal constructs and regulations had to be developed to maintain the semblance of legality in expropriation. As demonstrated, individuals who escaped through suicide became posthumously labeled as "disturbers of expropriation". Physicians played a crucial role during the deportation period by providing persecuted individuals with medical certificates or even staging sham surgeries to delay deportations. Simultaneously, their actions were monitored, and those who failed to report suicide attempts were punished. The Nazi authorities, for their part, sought to prevent suicides to ensure the smooth execution of deportations. Physicians faced daily ethical dilemmas, balancing acute life-saving measures against the prevention of further suffering. Arthur Nicolaier made extensive preparations for his suicide, particularly to protect his assets from confiscation by the Nazi state. This is evident from numerous documents, especially letters to his relative Carola Ebstein (1891–1973) in Leipzig. However, at the age of 80, Nicolaier would not have taken his own life without the immense persecution he faced. His final hopes for avoiding deportation rested on support from the Schering company and Wolfgang Heubner (1877–1957), professor for pharmacology in Berlin. As the study shows, extensive support networks and connections existed between these two actors, who frequently provided assistance to those in need. Conclusion --- This study demonstrates that persecution suicides were often more than mere acts of desperation: they were deliberate decisions, comparable to other escape options such as going underground. Despite the suffering and despair, these acts could carry elements of agency and self-determination. The study therefore advocates for a more integrated treatment of suicide and clandestine escape in historiographical research, as both forms of defiance and evasion constitute essential elements of resistance and self-assertion. The final years of Arthur Nicolaier's life highlight the importance of examining individual cases: how actions were shaped by hope and despair, and how persecuted individuals remained active agents until the very end.

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Dokumenttyp
Dissertation / PhD Thesis

Format
online

Sprache
German

Externe Identnummern
HBZ: HT030942400

Interne Identnummern
RWTH-2025-00388
Datensatz-ID: 1000477

Beteiligte Länder
Germany

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The record appears in these collections:
Document types > Theses > Ph.D. Theses
Faculty of Arts and Humanities (Fac.7)
Publication server / Open Access
Faculty of Medicine (Fac.10)
Public records
524000\-2
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700000

 Record created 2025-01-13, last modified 2025-02-12


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